Erinnerungen eines 89-jährigen an den Krieg vor 80 Jahren.
von Otto Endres (Jahrgang 1935).
Ende 1944 kamen die US-Soldaten von Frankreich und Luxemburg immer näher an unsere Heimat. In Berdorf (Luxemburg) machten sie eine Pause, um den Nachschub aufzubauen. Die Dörfer entlang der Grenze wurden in sogenannte „Rote- und Grüne Zonen“ eingeteilt. Die Ortschaften in der Roten Zone mussten vollständig geräumt werden. Unser Dorf war eines der ersten, das nicht evakuiert wurde. Aus diesem Grund fanden viele Menschen aus der Roten Zone Unterschlupf bei Verwandten oder Bekannten in unserer Gemeinde. So wohnte bei uns der Schuster Gilzemer aus Irrel.
Mein Vater richtete unseren Gewölbekeller als Schlafraum ein. Die Fenster und der Außeneingang wurden mit Balken und Sandsäcken gesichert, um uns vor dem Beschuss zu schützen. Der Keller hatte einen Mittelgang und direkten Zugang zum Haus. Auf einer Seite lagerten Futter- und Saatkartoffeln, die mit einem Holzboden abgedeckt waren. Darauf legte mein Vater Leinenstrohsäcke, damit wir dort schlafen konnten. Mehr als fünf Monate verbrachten wir in diesem Keller.
Von Berdorf, wo die Front bereits seit September 1944 war, wurden wir regelmäßig mit Geschützen beschossen. Diese Angriffe erfolgten in gewissen Abständen und oft in Form von sogenannten Salven (eine Salve bezeichnet eine große Menge gleichzeitig abgefeuerter Geschosse). Wo der erste Schuss einschlug, folgten auch die restlichen Geschosse. Unser Dorf lag in einem Tal und war nicht direkt einsehbar. Manchmal flogen die Geschosse über den Ort hinweg oder landeten daneben – doch wehe, sie trafen den Ort.
Mein Vater, der im Ersten Weltkrieg drei Jahre lang im Schützengraben bei Verdun gekämpft hatte, brachte uns Kindern bei, anhand des Pfeifens der Granaten zu erkennen, wo diese ungefähr einschlagen würden. Alle Häuser im Dorf erlitten Schäden. Auch unser Haus blieb nicht verschont: Zwei Granaten trafen das Haus selbst, und zwei weitere schlugen in die Scheune ein. Das Hausdach hatte ein großes Loch, und einer unserer Schornsteine war eingestürzt.
In der Scheune waren zu dieser Zeit Pferde untergebracht, die bereits fertig angeschirrt waren, zum Abmarsch der Soldaten mit Geschützen. Vier der Pferde starben durch den Beschuss. Diese Pferde gehörten zu einer der letzten Einheiten, die noch mit Pferden ausgestattet war und über Langrohr-Geschütze verfügte. Diese Geschütze waren in einem Tal in Richtung Höhjunk unter Bäumen versteckt stationiert.
Die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs waren für unser Dorf von großer Not und tragischen Ereignissen geprägt. Eines Nachts zog eine deutsche Einheit ab und ließ ihre toten Pferde zurück. Eine Granate schlug in unserem Garten ein und traf einen Baum, wobei ein Splitter in Richtung Pferdestall flog. Der Splitter wurde am Türpfosten abgelenkt und traf unser letztes Pferd am Bein, das so schwer verletzt wurde, dass ein Soldat es erschießen musste.
Am Ortsrand hatten die abziehenden deutschen Soldaten einen Berg leerer Granatkisten hinterlassen. Dies wurde zur Zielscheibe eines einzelnen amerikanischen Flugzeugs, das einige Bomben abwarf. Glücklicherweise fielen diese Bomben neben den Ort. Mein Vater nutzte die Pausen zwischen den Salven der amerikanischen Artillerie, um die toten Tiere mit unserem letzten Ochsen in die Bombenkrater zu schleppen und sie dort zu begraben.
Die leeren Kartuschen der deutschen Langrohrgeschütze nahmen wir uns nach dem Krieg zu Eigen. Mein Vater schnitt den Boden der Kartuschen ab, und was übrig blieb, war eine Blechrolle. Diese wurde aufgerollt und mit einem schweren Hammer flachgeklopft, um daraus Platten zu machen. Damit reparierten wir nach Kriegsende unsere Dächer.
Leider gab es auch viele Opfer in unserem Dorf. Unser Dorflehrer Faber wurde von Granatsplittern getroffen, die ihm einen Fuß schwer verletzten. Der Splitter stammte von einer Granate, die in unserem Birnbaum an der Kaschenbacherstraße einschlug. Der Lehrer stand bereits in der Tür, als das Bein getroffen wurde, und der Fuß musste später amputiert werden.
Ein besonders tragisches Ereignis ereignete sich am 13. Januar 1945, als eine Granate auf der Straßenkreuzung, etwa 50 Meter entfernt, einschlug. Die Splitter flogen waagerecht über den Boden und trafen zwei Jugendliche aus der Familie Dennenwaldt. Albert, ein Alterskamerad meines Bruders, war erst 13 Jahre alt und wurde von einem Splitter in die Halsader getroffen – er starb sofort. Seine 20-jährige Schwester Maria wurde schwer verletzt. Beide wurden mit einem Pferdegespann der deutschen Soldaten zum Sanitätsplatz in Helenenberg gebracht, doch Maria starb einen Tag später an ihren Verletzungen. Ein weiterer Bruder der Familie Dennenwaldt galt im Krieg als vermisst.
Im Nachbarhaus, „Burch“ genannt, schlug eine Granate ein und tötete zwei Menschen, die aus der Roten Zone geflohen waren und bei uns Unterschlupf gefunden hatten.
Am 31. Januar 1945, gegen 20 Uhr, schlug eine weitere Granate im Garten der Familie Fisch ein. Sie traf die 13-jährige Magdalena Fisch, die mit ihrer Mutter und ihren beiden jüngeren Geschwistern dort lebte. Magdalena war gerade dabei, Wäsche im Garten einzuholen, als sie von der Granate tödlich verletzt wurde. Ihr Vater war noch an der Front und kehrte erst 1949, vier Jahre nach Kriegsende, aus einem Gefangenenlager in Sibirien zurück. Er war der letzte im Dorf, der aus dem Krieg heimkehrte.
Ein besonders gefährlicher Vorfall muss erwähnt werden: Johann Bauler, geboren am 25.02.1927, und sein gleichaltriger Schulkamerad Peter Ziewers aus Kaschenbach mussten sich kurz vor Kriegsende, noch bevor sie 18 Jahre alt wurden, bei der Wehrmacht melden. Auf ihrer Fahrt zum Meldeamt nach Koblenz wurde der Personenzug bei Dreis-Karden an der Mosel von feindlichen Flugzeugen angegriffen und bombardiert. Es gab zahlreiche Tote und Verletzte. Die überlebenden Passagiere flohen in alle Richtungen, und Johann und Peter verloren sich aus den Augen. Johann schlug sich zu Fuß entlang der Bahngleise zurück in die Heimat, wo ihn seine Familie versteckte, bis die Amerikaner am 27.02.1945 einmarschierten. Peter Ziewers hingegen kam als Soldat nach Lothringen und starb an der Front. Er liegt heute auf einem Heldenfriedhof in Lothringen begraben.
Kurz vor dem Einmarsch der US-Truppen kamen deutsche Soldaten zurück nach Niederweis, um alle Kühe abzutreiben. Jede Familie durfte eine Kuh behalten. In unserem Haus lebten neben meinen Eltern zwei Geschwister, Bruder und Schwester, sowie die Familie Gilzemer aus Irrel. Alle drei Paare gaben sich als eine Familie aus, sodass wir drei Kühe behalten konnten. Vom Berg aus sollen die US-Truppen durch Lautsprecher gerufen haben: „Ihr Niederweiser, lasst euch das Vieh nicht wegnehmen!“
Am 27.02.1945 marschierten die Amerikaner in Niederweis ein. Sie umgingen die Westwallbunker „Katzenkopf“ und „Nimseck“ bei Irrel und kamen von Ferschweiler und Holsthum über den Berg nach Alsdorf. Sie zogen am Waldrand entlang bis zum Steg über die Nims, der von deutschen Soldaten gesprengt worden war. Glücklicherweise war ein Träger mit Geländer stehen geblieben, sodass man noch trockenen Fußes hinübergelangen konnte. Alle Straßenbrücken hatten die deutschen Truppen beim Rückzug gesprengt, bis auf eine Brücke in Richtung Höhjunk, die unversehrt blieb, weil ein Nachbar der Brücke, Nikolaus Müller, mutig die Zündkabel unterbrochen hatte – eine glückliche und mutige Tat für unser Dorf.
Am zerstörten Steg empfingen wir Kinder die amerikanischen Befreier. Zunächst wurden alle Häuser nach Wehrmachtssoldaten durchsucht, und die Dorfbewohner mussten sich im Schlosshof versammeln. Unser Dorf zählte damals 50 Häuser. Da meine Mutter krank war, konnte sie nicht in den Schlosshof und musste, in Decken gehüllt, vor dem Haus auf einem Stuhl sitzen. Ein US-Soldat hielt Wache bei ihr. Die Dorfbewohner wurden schließlich auf fünf Häuser im Ortskern verteilt. In unserem Haus lebten 50 Menschen auf engem Raum. Drei Wochen lang waren wir so eingesperrt, wobei wir morgens und abends jeweils eine Stunde Zeit hatten, um Dinge aus unseren Häusern zu holen und das Vieh zu versorgen. Wir blieben weiterhin im Keller, während andere Familien die oberen Zimmer bewohnten. Wir Kinder verbrachten die meiste Zeit auf dem Dachboden, von wo aus wir einen guten Blick auf das Schloss hatten. Dort hatten die Amerikaner ihr Quartier eingerichtet, und wir konnten beobachten, wie sie Möbel aus den Fenstern warfen, diese mit Benzin übergossen und verbrannten.
Die leerstehenden Häuser wurden von den Soldaten nach Schmuck und besonders nach Uhren durchsucht, falls jemand vergessen hatte, sie zu verstecken. Zum neuen Ortsbürgermeister wurde Nikolaus Heyen ernannt, und mein Vater, Johann Endres, wurde sein Stellvertreter. Beide mussten sich zuvor einer Überprüfung unterziehen, um sicherzustellen, dass sie keine Verbindungen zum NS-Regime hatten.
In der Umgebung des Dorfes (in der Gemarkung) waren einige kleine Bunker errichtet worden, in denen sich noch deutsche Soldaten versteckt hielten. Diese wurden in den Ort gebracht und mussten ihre gesamte Ausrüstung abgeben. Auf einem Hof außerhalb des Dorfes türmten sich die Wehrmachtsgegenstände einen Meter hoch. Für uns Kinder war dies später ein Anziehungspunkt in den Freistunden. Alles, was wir gebrauchen konnten – Essgeschirr, Feldflaschen, Bestecke und vieles mehr – nahmen wir mit nach Hause. Auch die Ausrüstung der toten Pferde, die in unserer Scheune geblieben waren, sammelten wir und bauten damit unser eigenes kleines Museum auf.
Vor einigen Jahren kam ein Sammler von der Ahr, der von der Gartenlaube mit den Wehrmachtsgegenständen gehört hatte. Mit einem Magneten durchsuchte er den gesamten Boden, jedoch ohne Erfolg. Stattdessen nahm er einige von uns gesammelte Kochgeschirre, Feldflaschen und klappbare Essbestecke für seine Sammlung mit (siehe Fotos).
Nachdem die Besatzer abgezogen waren, konnten wir endlich mit den Reparaturarbeiten an unserem Hausdach beginnen. Einige der Traghölzer waren beschädigt, weshalb wir erst geeignete Bäume fällen mussten. Diese wurden mit einer speziellen Axt, deren Klinge schräg zum Stiel stand, zu Vierkantbalken behauen. Da es keinen Strom gab, war alles Handarbeit. Beim Zusammenbau stellte der Zimmermann fest, dass einige Schrauben fehlten. Ich erinnerte mich daran, auf einem verlassenen Bauhof der Besatzer solche Schrauben gesehen zu haben. Schnell fuhr ich mit dem Fahrrad dorthin und konnte zur Überraschung der Handwerker das nötige Material für den Wiederaufbau besorgen.
Kommentar: Diese Schilderungen von Otto Endres geben einen eindrucksvollen Einblick in das tägliche Überleben in den letzten Kriegswochen in Niederweis. Besonders die mutigen Taten der Dorfbewohner und der schmerzhafte Verlust von Freunden und Familienangehörigen machen diesen Bericht zu einem wertvollen Zeitdokument.